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Parterre spukt es

von Juliane Beer

Im Rahmen meiner Arbeit über astronomische Observatorien im Europa des Mittelalters stieß ich letzten Monat auf die Darstellung einer Beobachtungsstation in Deutschland. Die Skizze eines Gebäudes im damaligen Rixdorf, heute Berlin Neukölln, sah zunächst unspektakulär aus, ebenso die Innenansicht des Raumes zu ebener Erde. Im östlichen Lichtschacht wies ein Fernrohr in den Sternenhimmel der Sommersonnenwende.
Soweit nichts besonderes.
Was mich allerdings irritierte: Unter den Zeichnungen hatte jemand vermerkt, dass das Observatorium eine Woche nach Fertigstellung wieder abgerissen worden war. So alt wie die Skizzen konnte der Hinweis nicht annähernd sein. Er war mit Kugelschreiber geschrieben und überhaupt nicht verblichen.

Die Skizze ging mir das gesamte Wochenende nicht mehr aus dem Sinn; nachts schlief ich unruhig. Irgendetwas stimmte hier nicht. Montagmorgen wurde ich weit vor meiner Zeit wach und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Die darauffolgenden zwei Tage verbrachte ich im Stadtarchiv und recherchierte in alten Aufzeichnungen über Rixdorf nach den Gründen für den Abriss der Beobachtungsstation. Ich fand nichts. Dass es überhaupt jemals eine Beobachtungsstation gegeben hatte war nicht mit auch nur einem Wort erwähnt.

Abends gelang es mir mit Hilfe einer alten Originalstadtkarte von Rixdorf einen Standortplan für das Observatorium und Umgebung zu rekonstruieren. Den druckte ich auf Durchschlagpapier und legte ihn auf das aktuelle Straßenverzeichnis von Neukölln. Während seines kurzen Daseins hatte die Beobachtungsstation auf dem heutigen Grundstück Richardstraße 15 gestanden.
Ab dann wurden die Dinge immer mysteriöser...

n der Parterre-Wohnung Richardstraße 15, zu der ich mir soeben Zutritt verschafft habe, soll es nicht mit rechten Dingen zugehen. Spuken soll es hier, behaupten die Hausbewohner.
Warum ist die Wohnung seit acht Jahren nicht mehr vermietet worden, wie ich von der Verwaltung erfuhr? Ich postierte mich im Hof, sprach die Nachbarn an. Jeder Bewerber würde im letzten Moment einen Rückzieher machen, hieß es.
Und davor?

Mieter hätten in der Wohnung den Verstand verloren, ´normale´ Leute, was immer man darunter versteht. Zum Beispiel sah man Familie R. eines Morgens über den Hof taumeln, dumpfe Schreie ausstoßend, Frau R. presste das Baby an sich, das sich nicht rührte, nach Aussagen einer Mieterin bereits kalt und stocksteif war. Man alarmierte die Feuerwehr, die brachte Familie R. ins Krankenhaus, dort sind sie bis heute geblieben.
Wenige Monate später habe es die nächste Familie erwischt. Die K.s waren gerade eingezogen; nachdem sie tagelang niemand mehr gesehen hatte, aber seltsame Laute aus der Wohnung drangen, ließ man den Hausmeister die Tür öffnen. Es bot sich ein grauenhafter Anblick. Herr und Frau K. saßen zusammengekauert auf dem Küchenboden, ihren zwei Kindern hatten sie die Augen verbunden, Watte in die Ohren gesteckt, sie gefesselt und in ein Regalfach gelegt.
Dass die Farben nicht mehr stimmten, solle Herr K. dem herbei gerufenen Arzt versichert haben, und es sei jetzt immer so unerträglich laut um ihn herum. Und die Welt..., draußen, vor seinem Fenster ruhe lautlos die Welt. Den Kindern wollte er diesen Anblick ersparen. Ein blechernes Lachen habe er daraufhin von sich gegeben, minutenlang, durch Mark und Bein sei das gegangen. Auch Familie K. wurde in ein Krankenhaus verbracht und kehrte nicht mehr zurück.

Die Wohnung stehe seitdem leer. Trotzdem würden zeitweise Geräusche aus ihr dringen, und zwar ein Rattern wie von unzähligen Rechnern erzeugt.
Ein Rattern? Ich höre nichts. Ich stehe in einer typischen Altbauwohnung: Parkettboden, hohe Stuckdecke, schiefe Wände. Und absolut ruhig ist es hier. Im Flur gibt es noch eine dieser altmodischen Kammern. Ich öffne die Holztür. Seltsam, dahinter hat man mit Brettern den Zugang zur Kammer zugenagelt. Akribisch. Ohne Werkzeug ist hier nichts zu machen. Ich laufe zum Auto, warum zittere ich?

Mit Zange und ein Brecheisen arbeite ich am Eingang der Kammer herum, seit dem Nachmittag. Hinter den Brettern fand ich noch eine Tür - die zu öffnen dauert eine weitere Stunde. Als es dunkel wird, springt endlich vollkommen geräuschlos die zweite Tür auf. Ein Flirren. Die Zeit fällt zu Boden. Ich atme flach. Blicke ins Innere, will meinen Augen nicht trauen. Ein Raum liegt vor mir. Ein Raum, riesig wie ein Tanzsaal. Licht schillert durch einen offenen Schacht, sammelt sich wie Phosphor am Boden, kniehoch. Ein überdimensionaler Rechner steht in der Mitte des Raums, ganz starr, als hätte er sich in seiner Erscheinung geirrt.
Erschaudernd trete ich ein.

Wo gerade noch der Rechner stand, ist jetzt nur noch die Idee von Informatik auszumachen. Immer und immer wieder. Aber der Gedanke nimmt keine Gestalt mehr an. Ich erahne einen Riss in der Zeit. Leben wir in diesem Riss, bin ich soeben der glatten Spiegelung des unbeschädigten Kosmos auf der Spur?

Der Boden ist übersät mit Bauplänen. Das alte Observatorium! Laut Skizze stehe ich mittendrin.

"Hier trifft Raum auf Raum", lese ich auf einem der Pläne.
Etwas zieht mich zum Lichtschacht. Ich schaue hinaus in das helle Funkeln von
abertausend Sternen.
Dahinter, draußen im Unendlichen - dreht sich langsam der Planet Erde.


2012-04-01 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
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