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Gesundheitswesen in Indien

2. Hausbesuche in den Slums

von Dr. Elisabeth Kärcher

Straßenbild mit Rikscha, KolkataIndien ist ein leistungsfähiger, demokratischer und moderner Staat. Nach seinem Selbstverständnis hat er die hauseigenen Probleme im Griff, weiß gleichzeitig aber im Grunde genau, dass diese dafür viel zu groß sind. Durch Hilfsdienste geleistete medizinische Versorgung wird daher mit einer Mischung aus Argwohn und Neid beäugt, gerade bei Einsätzen für die unteren Schichten Indiens: Sie stellen das Heer der emsigen Arbeitenden, die klaglos bis zum Umfallen schuften und in hinduistischer wie moslemischer Einstellung ihr Schicksal tragen.

Viele ihrer Vertreter wohnen in Slums, genauer: 40 Prozent aller Einwohner Kolkatas leben dort. Ein Stadtteil, den wir besuchen, beherbergt auf engstem Raum rund 1,5 bis 2 Millionen Menschen. Kein einziger indischer, approbierter Arzt hat hier seine Praxis. Quacks - mehr oder weniger Heilkundige bieten ihre Leistung in kleinen Läden an. Oder die Menschen gehen zu den Basisgesundheitsstationen von Hilfsdiensten.

Seit etwa zwanzig Jahren leisten German Doctors e.V. hier diese Basisversorgung. Sie beschäftigen als Ärzte, Schwestern und angelerntes Personal überwiegend Einheimische. Unterstützt werden sie von Ärzten aus Deutschland, die sechs Wochen oder länger ehrenamtlich helfen. Die Arbeit wird ausschließlich aus Spenden finanziert und dadurch ist es möglich, dass Medikamente – ambulant wie stationär – für die Patienten kostenfrei sind.

Stilleben mit StethoskopDas Ziel ist die Basisversorgung der ärmsten Schichten, weshalb Behandlungsstationen mitten in den Armenvierteln liegen. Diese Viertel sind eng und voller Menschen und Tiere. Aber schnell wird deutlich: Das Viertel ist keineswegs einheitlich. Die Armutsunterschiede zwischen Armen sind so groß, dass die in den mehrstöckigen Häusern mit Strom und Wasser Versorgten einer Basisambulanz heftig widersprochen hatten: Dies hätte nämlich täglich 300 bis 400 der bitterarmen Menschen in ihren Häuserblock gezogen.

Daher ist die Basisversorgung in einer ehemaligen Hühnerzuchtfabrik am Rand der Siedlung untergebracht. Neben grundlegender hausärztlicher Behandlung findet hier die Ausgabe von Medikamenten, Vitaminzusatznahrung und Impfungen auf engstem Raum im Halbdunkeln statt. Vitamin-A-Mangel führt zu Blindheit und in Kombination mit Masern zu hohen Todesfallraten. Vitamin-D-Mangel führt zu Knochenschwund und begünstigt den Tuberkulosebefall von Knochen, Eisenmangel führt zu Blutarmut und Leistungsschwäche, Zinkmangel zu Abwehrschwäche und langdauernden Durchfällen.

Die Ausgabe von Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln soll jedoch kontrolliert erfolgen, keinen Schwarzhandel einführen und eine regelmäßige Beobachtung der Patienten ermöglichen. Dem dienen die Hausbesuche, die täglich zuverlässige Mitarbeiter durchführen, die ab und zu von Ärzten begleitet werden. Heute von uns.

Im Gewirr der Gassen des Stadtteils offenbaren sich nach und nach die Armutsklassen. Nach den Häusern, in denen eine obere Unterschicht groß wird und zur wachsenden Mittelschicht Indiens drängt, kommen mir sechs bis zehn Quadratmeter kleine Einraumhütten für fünf- bis zehnköpfige Familien armselig vor. Aber feste Steindecken, Strom mit Licht und Ventilatoren, saubere Räume mit bunten Bildern an den Wänden und Kinder in frischer Schulkleidung sind Zeichen, dass ein regelmäßiges, wenn auch sehr geringes Einkommen zur Verfügung steht.

BasisgesundheitsstationWackelige Wellblechhütten ohne Strom, ohne sauber gefasste Abflusskanäle vor dem Haus und brütend heiß unter der Mittagssonne zeigen dagegen pures Elend. Und wir erfahren: zwar kein regelmäßiges, aber ein gelegentliches Einkommen – häufig als einer der vielen Rikscha-Fahrer per Fuß oder Fahrrad – bringt der Hausvorstand mit und muss davon an den Landlord, den mafia-artig organisierten Landbesitzer, für dieses Fleckchen Hütte Miete zahlen. Wer noch weniger hat, lebt unter Plastikplanen oder schutzlos auf den Straßen und muss auch hier Landlords fürchten, die Straßen-Schlafplätze mit kriminellen Abgaben belegen.

Dennoch: diese Unterkünfte beherrschen das Bild des Stadtteils weit weniger als die Ein-Raum-Hütten verschiedener Kategorien. Dort, wo Abwasserrinnen an den Straßenrändern zu offenen oder teilweise mit Steinplatten abgedeckten Kanälen ausgebaut waren, roch es überraschend wenig nach Fäkalien. Grund: Jeden Morgen werden sie geleert und gesäubert! Allerdings gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie sehr sich Frisch- und Abwasser mischen, wenn die Straßen vom Monsunregen manchmal hüfthoch überschwemmt werden. Cholerainfektionen sind daher von Juni bis in die Nach-Monsunzeit im August häufig.

Tagsüber verrichten nur Männer ihr Bedürfnis über den offenen Kanalrinnen. Für Frauen ist dies nicht schicklich und in Ermangelung von Toiletten in den Hütten müssen sie bis zum Schutz der Dunkelheit warten. Um den Tag durchzuhalten, trinken sie möglichst wenig Wasser, viel zu wenig für den 35 bis 45 Grad schwülwarmen Sommer Kalkuttas. Manche Frau mit glasigem Blick, langsam und müde wankend ist daher keineswegs krank oder betäubt - sondern schlicht gefährlich ausgetrocknet.

Ein wenig klang es wie ein Märchen, dass Knochenschwund in diesen Vierteln bei Frauen und Mädchen vor allem deshalb so häufig ist, weil sie zu wenig Sonne bekommen. Schon tägliche zehn Minuten Tageslicht auf Gesicht, Hals, Hände in den Tropen reichen, um schlimmsten Mangel zu verhindern. Selbst indische Ärzte, die außerhalb Kolkatas (Kalkuttas) Dörfer versorgen, schütteln den Kopf. Aber je tiefer wir in Hüttenbezirke vorstoßen, umso häufiger begegnen wir komplett dunklen Gängen zwischen Hütten und Häusern. Fenster haben die Hütten ohnehin nicht und manchen insbesondere moslemischen Frauen und Mädchen ist es nicht gestattet, bei Tag, wenn der Mann arbeitet, den Wohnraum zu verlassen.

Medikamentenausgabe in der BasisgesundheitsstationMitten im Slum, wenn auch in einer der besseren Gegenden mit fest gemauerten Häusern befindet sich das einzige Krankenhaus Kalkuttas in Trägerschaft einer Hilfsorganisation, das stationäre Tuberkulosepatienten versorgt und so ist es nicht überraschend, dass wir Patienten fast aller Schichten im Krankenhaus finden. Hier sind diejenigen, die ohne das Krankenhaus sterben würden, weil die ambulante Medikamentenversorgung für sie nicht ausreicht. Hier sehen wir fast jede denkbare Tuberkulosekomplikation, vor allem hochgradig resistente Tuberkuloseinfektionen, die auf kaum noch eine Behandlung ansprechen und Querschnittslähmungen durch zusammengebrochene von Tuberkulose zerfressene Wirbelknochen.

Nebenan ist eine der ambulanten Stationen, die zu den Gesundheits - Kontrollprogrammen des Landes gehören, die wirklich funktionieren. Jeweils auf 100.000 Einwohner gibt es eine Tuberkulosestation mit Arzt, Labor (Anfärben und Mikroskopieren von Tuberkelbazillen im Auswurf) und Medikamentenausgabe. Diese erfolgt – ganz nach den Regeln der Weltgesundheitsorganisation WHO – als DOT = daily observed treatment, was bedeutet, dass die Patienten sich ihre Tagesmenge an Tabletten jeden Tag holen und vor den Augen des Personals einnehmen müssen.

Einraumhütte, ein Mädchen hat ein Päckchen mit Nahrungsergänzung erhaltenDie Labore werden ebenso akribisch geführt und überprüft wie die Medikamentenausgabe und würden alle, die länger als drei Wochen husten, auch hierherkommen, wäre die Situation besser als sie ist. Leider kommen nur etwa die Hälfte der Kranken hierher. Die anderen gehen zu Quacks – so wird man gegenüber Nachbarn und Vermietern nicht als Tuberkulosepatient offenkundig.

Später, wenn die Behandlung misslingt, und die Tuberkulosestation dann doch aufgesucht wird, sprechen diese fehlbehandelten Patienten viel schlechter auf die Originalmedikamente an. Ängste, Fatalismus und Ausgrenzung von Tuberkulosekranken sind typische Begleiterscheinungen dieser schleichenden Krankheit – nicht nur in Indien.

Andere Gründe machen es ebenso schwer, dass Indien die Tuberkulose zurückdrängt: Nicht nur Mangelernährung, dichtgedrängtes Wohnen, eine wachsende Zahl von HIV-Infektionen sondern auch die hohe Zahl an Diabetikern verschlechtert die Eindämmung der Tuberkulose.

Vermutlich aufgrund genetischer Disposition hat Indiens Bevölkerung ein hohes Risiko, einen Diabetes zu entwickeln. Jugendlicher Diabetes ist heute immer noch eine tödliche Erkrankung außerhalb der Städte. Insulin ist sehr teuer und Ärzte sind dort rar. Bei der wachsenden Mittelschicht in den Städten wird die Behandlung bezahlbar und so offenbart sich erst jetzt das volle Ausmaß des Problems: Indiens wachsender Wohlstand wird es in zwanzig Jahren zum Land mit den meisten Diabetikern der Welt machen.

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2007-04-17 Dr. Elisabeth Kärcher, Wirtschaftswetter
Text: ©Dr. Elisabeth Kärcher
Fotos: © Dr. Elisabeth Kärcher
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